Die Ausstellung "Weihnachtszeit in München" war für unsere 1. Vorsitzende Ruth der eigentliche Auslöser einen Abend zur Kultur des Marionettenspiels für die Mitglieder zu veranstalten. Nadine stellte in der Aufbauphase der Ausstellung – in der auch das Marionettentheater eine Bühnen-Szene in einer Vitrine gestaltete – Ruth den Intendanten des Münchner Marionettentheaters Siegfried Böhmke vor. Dieser übergab ihr das Programm für das erste Halbjahr. Die Ankündigung eines "Altmünchner Abends", die Informationen zu dessen Inhalt – außerdem die Möglichkeit einer Führung hinter die Kulissen des Theaters – waren dann Grund genug den Vereinsmitgliedern einen Kulturabend der besonderen Art anzubieten.
Das Echo darauf war gut wie schon lange nicht mehr, die Zusagen kamen spontan und schnell und so konnten sich 22 „Schöne“ am Abend des 22. Februar 2020 auf folgende szenischen Darstellungen freuen:
den Einakter „Die verhexten Notenständer“ mit Liesl Karlstadt und Karl Valentin,
die Erlebnisse des Dienstmanns Nr. 172 Alois Hingerl als „Münchner im Himmel“ von Ludwig Thoma,
den Boandlkramer-Überlister Kasper Brandner, der ins Paradies schauen darf, nach Franz Ferdinand von Kobell,
und Bally Prell, die mit ihrer unverwechselbaren Tenorstimme die „Schönheitskönigin von Schneizlreuth“ zum Besten geben sollte.
Die Standlfrau Anna Wurzl vom Viktualienmarkt führt durch den Abend (die Schauspielerin Johanna Baumann).
Nach dem mehrmaligen Ruf einer altmodischen, aber zum Theater passenden Klingel, nahmen die Zuschauer die Plätze ein. Auf spätere Nachfrage wurde bekundet, daß das Läutewerk aus den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts stammt, aber immer noch klaglos und ohne jegliche Reparatur den Dienst versieht.
Bevor nun der Abend begann, trat der Intendant Siegfried Böhmke vor das Publikum und gab seinem Erstaunen über den gewaltigen Besucherzuspruch Ausdruck.
Waren doch alle 13 Reihen des Theaters mit den etwa 150 Sitzplätzen gefüllt. “So viele Besucher haben wir ja nicht mal zur Silvestervorstellung!" war sein Résumé. Er übergab an Anna Wurzl, die ihr mobiles Obst- und Gmiasstandl hereinfuhr und das Publikum mit ihren Späßen in die richtige Stimmung zur ersten Szene mit den verhexten Notenständern brachte. Aus dem „off“ erklangen nun die Originalstimmen von Liesl Karlstadt und Karl Valentin und die Puppen der Protagonisten spielten absolut synchron die Szene mit den verschiedenen Notenständern, deren Eigenleben die ausführenden Künstler schier um den Verstand brachten. Das anfängliche Erstaunen und die Skepsis, daß plötzlich neben den Puppen „menschliche“ Spieler in das Geschehen eingriffen, war bald verflogen. Die Grenzen zwischen Puppenspiel und Menschentun begannen zu verschwimmen und die Faszination über die „Tricks“ der Puppenspieler – sonst heute nur noch aus modernen Animationsfilmen gewohnt – gewann schnell die Oberhand. |
Auf die Umsetzung der Erzählung vom Brandner Kasper waren wir besonders gespannt: Kannten doch viele noch den Film aus den 1950er Jahren mit Paul Hörbiger und Carl Wery oder die Erfolgsaufführung aus dem „Resi“ mit Toni Berger und Fritz Straßner.Würde eine Verkürzung auf die Möglichkeiten einer Puppenbühne gelingen? Fazit: Ja! Nicht nur die textliche Umsetzung der Geschichte von Ritter Franz von Kobell aus dem Jahre 1871 durch den Intendanten Siegfried Böhmke überzeugte. Auch die Schauspieler, die den Puppen ihre Stimme liehen, waren mit Wohlbedacht ausgesucht: Volksschauspieler Heinz Josef „Dscharli“ Braun als Kasper und seine Ehefrau Johanna Bittenbinder hat Kaspers Frau Traudl gesprochen. Den Boandlkramer aber sprach – in enger Anlehnung an Rudolf Vogel selig – in kongenialer Weise der Theaterintendant Böhmke selber.
Lisa Saumweber, Puppenspielerin und in der Werkstatt tätig, hatte das Spielkreuz und die Fäden für eine mit viel Liebe in die Inszenierung eingebaute „Puppe“ in Händen: den Dackel vom Kasper. Wie dieser, während sein Herrle Zither spielte, mit der rechten Vorderpfote exakt den Takt dazu schlug: eine große Freude für die, welche solche Details lieben. Und so ist es nicht verwunderlich, daß die Besucher beeindruckt waren von der vielen Arbeit, die hinter einer solchen Aufführung steckt.
Drei Jahre Lehrzeit bis zur „Puppenführungsbühnenreife“ – jetzt wissen wir warum!
Nach der Pause erwartete uns die Geschichte eines Münchner Originals: dem Dienstmann Nr. 172 vom Münchner Hauptbahnhof namens Alois Hingerl.
Bekannt geworden ist Hingerl – eine Geschichte von Ludwig Thoma, geschrieben im Jahr 1911 – vor allem durch den brillianten Vortrag des Schauspielers Adolf Gondrell, der die Geschichte Thomas für seine Zwecke überarbeitete. Auf dieser Basis wurde 1962 ein Zeichentrickfilm vom Ehepaar Walter und Traudl Reiner gedreht.
Auch für die Marionettenbühne wurde das Thoma-Stück überarbeitet:
Günther Sturm, ein langjähriges Ensemble-Mitglied des Theaters mit großer Affinität zur bairischen Literatur, hat es geschrieben. Anlaß war die Aufführung anläßlich der Eröffnung der IGA (im Westpark München, 28. April bis 9. Oktober 1983).
Ebenfalls für dieses Stück wurden bekannte Schauspieler für die Sprecherrollen verpflichtet:
den Alois(ius) sprach Willi Schultes; Schultes wird oft als „Bayerns bester unbekannter Volksschauspieler“ bezeichnet (mehr dazu, wen’s interessiert: wikipedia!).
Dem Petrus lieh Wolf Euba, apostrophiert als „Stimme Bayerns“ ob seiner Omnipräsenz in Radio und Fernsehen des Bayerischen Rundfunks als Sprecher, Regisseur und Autor, die Stimme. (Euba erhielt übrigens 2008 den Jahrespreis der Pocci-Gesellschaft, ehe ihn dann auch Siegfried Böhmke und sein Theater 2012 bekam).
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Jetzt fehlte nur noch die Schönheitskönigin von Schneizlreuth! Und schon „schwebte“ sie herein, in die Guckkastenbühne. Allein schon ihr Gwand: Exakt dem lebenden Vorbild nachgeschneidert,die gestrickten Stutzerl, dann die Frisur mit der Schmalzlocke und das Krönchen auf dem Kopf – es paßte einfach alles.
Und wieder diese exakte Umsetzung von Gesang und Bewegung – man vergaß, daß da „bloß“ eine Puppe agierte – und die Unterstützung durch die lebensgroßen Pressephotographen und die „Interfiefer“ machte es noch lebendiger. Daß die Schönheitskönigin dann vor lauter Freud auch noch durch die Luft schwebte: Wer wollte ihr das verdenken. Und so flogen dann auch zum Finale Blumensträuße auf die Bühne. Diese Kombination aus Fiktion und Realität schafft nur das Marionettentheater!
Begeisterter Beifall – wie nach allen Szenen – war das Lob für die Künstler an Spielkreuz und Fäden.
Jetzt war Warten angesagt: Wollte doch ein Großteil der Besucher den versprochenen „Blick hinter die Kulissen“ erleben. Die Gruppenbegrenzung auf 30 Personen war notwendig und sinnvoll. In der Zwischenzeit wurden die Besucher von einer Puppenspielerin angeleitet, das Puppenspiel mal selber auszuprobieren.
Ob große oder kleinere Kinder: Bald erlagen sie der Faszination durch Ziehen an den (richtigen) Fäden die kleinen Figuren zum Leben zu erwecken. Mancher wollte gar nicht mehr aufhören und sogar mancher Dialog entspann sich zwischen den sich ansonsten ja fremden Spielern bzw. deren Puppen, denen sie ihre Stimme liehen.
Endlich dann die Führung: Und so folgte Erklärung auf Erklärung, Information auf Information und die (anfänglich vermeintliche) Desillusionierung wich sehr schnell einer großen |
Bewunderung für die Genialität der Spezies Puppenspieler (immer auch mit *-innen!), die gleichzeitig Ideensucher- (und –finder), Figurenbildner, Kostümbildner, Kostümschneider, Techniker, Maler, Mechaniker, Schreiner und Schrauber sind. Der Blick wanderte bald nach oben zu den (fahrbaren!) Spielbrücken; über eine steile, enge Wendeltreppe ging es hinauf zu den Akteuren „über“ den Puppen. Die Spielerperspektive, gut 2 m über der Bühne, läßt die besondere Herausforderung ahnen, welcher die Spieler ausgesetzt sind. Bis zu 2 Stunden hochkonzentriertes Bewegen der bis zu 70 cm hohen und maximal 3 kg schweren Puppen in einer Position, die Schultergürtel, Arme und Handgelenke bis aufs Äußerste strapazieren: Da braucht’s kein Fitnesstudio mehr. Auch das Zusammenspiel vieler Puppen, die einmal von der einen Brücke aus vom Körper weg und von der gegenüberliegenden Brücke aus zum Körper hin bespielt werden müssen und trotzdem für den Zuschauer ein harmonisches Miteinander bilden sollen: eine Herausforderung der besonderen Art! Und wer meint, eine 500 g leichte Puppe sei „leichter“ zu spielen, der irrt gewaltig: So ein leichtes „Pendel“ ruhig zu halten und natürlich zu bewegen kann ganz schön verflixt sein.
Tom Weber, der Mann am Mischpult und Herr über Licht und Ton bildet den ruhenden Pol: die Spieler und den Ablauf immer im Blick, jede Sekunde bereit helfend und steuernd einzugreifen, falls es mal nicht ganz nach Plan laufen sollte. Natürlich sind alle Lichtstimmungen, alle Musikstücke, der gesamte Ablauf „computermassig“ abgespeichert und wären auch selbstlaufend möglich – Tom aber hält die „elektronischen Fäden“ in seinen Händen und vertraut auf seine spielerischen Fähigkeiten mit der Elektronik; ähnlich wie die Puppenspieler, die ihren Darstellern durch ihr Fädenziehen erst das richtige Leben geben (Unvergessen: Engel Aloisius fliegt mit einer Art Fuß-Heckantrieb auf die Erde zurück).
Zum Schluß stiegen wir noch eine Treppe höher und durften sozusagen das Allerheiligste betreten: Den Fundus an Figuren nahezu aller gespielten Aufführungen (aber auch den neuen, die schon in Arbeit sind; Stichwort Tabaluga), Dekorationen, Bühnenprospekten, Requisiten und all den tausend großen und kleinen Dingen, die es möglicherweise wert sind, aufgehoben zu werden. Ob in unserer hochtechnisierten Zeit noch Idiophone, wie eine Windmaschine oder ein Donnerblech wirklich gebraucht werden, stellte sogar Intendant Siegfried Böhmke, der den letzten Teil der Führung übernahm, in Frage; doch seinem Sammlerherz gäbe es einen Stich, würden diese Dinge eines Tages nicht mehr vorhanden sein.
So stiegen wir am Ende der Führung die vielen Stufen wieder hinab, noch gefangen von der Fülle des Erlebten. Alle waren beeindruckt von der Bandbreite der aufzuführenden Stücke und der Gelassenheit der Akteure. Doch am Ende des Abends mußte die Phantasie wieder der Gegenwart weichen, aber der Blick hinter die Kulissen war „wie ein geheimes Guckloch in die Kinderzeit und das kleine Mäderl tief in mir hatte eine Riesngaudi!"
Schöner kann man das Erlebte dieses Abends eigentlich nicht ausdrücken.
PvC